ITALIENISCHE GESCHICHTEN

Davide

Früher war Davide hinter der Bar und kredenzte uns über Mittag seine Sandwiches. Er hielt uns für verrückte Vögel und lachte nur, wenn wir ihm einen Tandemflug anboten. Dann übernahm er die Tankstelle seines Vaters, welche zur Bar gehörte, und er sah uns jeden Tag fliegen. Er lachte nun weniger über uns, und seine Augen begannen zu leuchten, wenn er das Wort Gleitschirm hörte. So überraschte es niemanden wirklich, als er eines Tages in unseren Shop trat und sich für die Schulung anmeldete. Sobald er an den Höhenflügen war, verbrachte er jede freie Minute beim Fliegen. Es ist schon eine tolle Sache, wenn man praktisch vor der eigenen Haustür landen kann.

Davide wollte viel fliegen, da er möglichst schnell ein sicherer Pilot werden wollte. Nachdem er seienen Pilotenschein hatte, sagte er uns oft: “Ich fliege zwar viel, aber beinah ausschliesslich hier in Diecimo. Ich kann mich also noch lange nicht mit euch vergleichen. Aber ein Bisschen besser als viele dieser aufgeblasene Piloten bin ich hoffentlich doch”. In Anwesenheit seines ehemaligen Fluglehrers Maurizio fügte er auch mal schelmisch hinzu: “ Sollte ich demnächst besser fliegen als du, ist das nicht mein Verdienst, sondern deine Schuld. Anstatt deine Kücken am Funk zu führen, solltest du wieder mal deinen Schirm auspacken”! Auch sonst war sein Maulwerk recht lose. Er scheute sich in keiner Weise, verbale Fusstritte auszuteilen, wenn ihm jemand etwas hochnäsig erschien oder sich jemand sonst eigenartig gebärdete. Auch Endrio mit seinen Frauengeschichten musste ab und zu dran glauben. Überhaupt war er über Alles auf dem Lauffenden. Hatte jemand ein Missgeschick, war er einer der Ersten, dem es zu Ohren kam. Wusste er es, wussten es innert kürzester Zeit auch alle anderen Piloten. Er war das Tratschweib des grossen Piloten Dorfes das von Pisa bis Florenz reichte. Er konnte sich köstlich amüsieren ob der Ungeschicklichkeit und Zwischenfälle der Anderen. Zwar hatte er mit seinen Bemerkungen oft recht, doch mit der Zeit, so schien es uns, wurde er trotzdem etwas übermütig. Glücklicherweise hatte er es nicht eilig seinen Anfängerschirm gegen einen Intermediat zu tauschen.

An einem Morgen, als Endrio ein paar Schirme verschicken musste, hielt er bei Davide an der Tankstelle an. Er brauchte Diesel. “Davide, willst du einen Nachtflug machen”? fragte er ihn bei dieser Gelegenheit. Davide lachte lauthals heraus, er sei ja nicht verrückt, und in Vollmondnächten mache er jeweils andere Dinge. Doch der Haken sass. In der Nachmittagspause kam Davide bei uns im Shop vorbei. Er wollte sich bei Endrio vergewissern, dass man bei Vollmond genug sähe um fliegen zu können. “Nur beim Landen musst du etwas Acht geben, beruhigte ihn Endrio, "denn es ist nicht immer einfach die Höhe abzuschätzen”. Ich hatte an jenem Abend leider keine Zeit, denn ein Vollmondflug ist immer etwas aussergewöhnliches. Da ich ausfiel, brauchte Endrio unbedingt jemanden, um das Auto zurück holen zu können. Desshalb musst Davide her. “Komm um sieben im Shop vorbei, ich hoffe dass ich bis dann fertig bin” sagte er ihm.

Um sieben Uhr konnte er den Laden jedoch noch lange nicht schliessen, denn am Nachmittag hatte ein Pilot aus Florenz angerufen. Er wollte einen Gleitschirm anschauen kommen, allerdings etwas später, so gegen sechs Uhr. Dies wäre kein Problem gewesen, hätte er sich an die Zeit gehalten. Knapp vor Ladenschluss, um viertel vor sieben, traf er mit tausend Entschuldigungen ein. Endrio verzog keine Miene. Abgesehen davon, dass er schwer ausser Fassung zu bringen war, sind die Italiener recht “elastisch” in Sachen Arbeit; auch im positiven Sinn. Davide blieb eine Weile im Laden, hörte der Diskussion zu und hoffte auf ein baldiges Ende. Endrios Geduld war beinah sprichwörtlich. Man vergegenwärtige sich z.B. die Geduld die es ihn gekostete hatte, Francone vom einsilbigen Begleiter, in einen redseligen Wettkampfgefährten zu verwandeln. Davide hatte weniger Geduld. Nach einer knappen Stunde verabschiedete er sich. “Ich geh mal was essen, du weisst ja wo ich wohne” sagte er zu Endrio. Der andere Pilot schien die Anspielung nicht zu bemerken, denn er verliess den Laden erst um halb zehn. Imerhin hatte es sich für Endrio gelohnt: der Schirm war verkauft. Tief Luft holen, dann ab die Post zur Krönung des Tages! Schnell sein Funkgerät einpacken, plus eines der Schule für Davide. Sie fuhren mit Davides Auto hoch, das Auto von Endrio blieb als Rückholer am Landeplatz.

Der Weg unter den Bäumen zum Startplatz war trotz des Vollmondes dunkel und Davide stolpert mehrere Male in seiner Ungeduld. Welche Enttäuschung als sie dort ankamen: der Wind stand zwar perfekt, warscheinlich war eine kleine Störung im Anzug, aber der Start war in Neble gehüllt. Für Davide war’s das Aus. “Warte einen Moment, ich gehe ein Bischen runter” beschwichtigte ihn Endrio. “Die Luft wird hier angehoben und kühlt aus. Desshalb formt sich vor dem Startplatz eine Wolkenbank. Die ist meistens nicht sehr dick”. Tatsächlich konnte Endrio knappe fünfzig Meter weiter unten die Lichter im Tal ausmachen. “Komm, gehen wir, das wird fantastisch. Du musst einfach geradeaus fliegen, bis du aus dem Nebel raus bist”. Gesagt, getan: zehn Minuten später war er draussen. Über Funk meldete er: “Davide, es ist ganz leicht. Nach zehn oder fünfzehn Seckunden bist du draussen. Es ist einfach super hier, man sieht wirklich alles in dem silbergrauen Licht des Mondes. Sogar du mit deinem Schulungsschirm kannst vor der Wolke soaren”. Mit etwas zittrigen Händen nahm Davide die Traggurten in die Hände und machte die Bremsen los. Er war bereit. “Ich komme” meldete er dann, worauf Endrio etwas vom Nebel weg flog und wartete.

“Komm Davide, bewege deinen Hintern.”- “He, Davide, hörst du mich?” Nach einer Weile meldete sich Davide: “Ja, ich höre dich. Mein Radio ist mir runtergefallen.- Ich häng in einem Baum”. “Was???”- Glücklicherweise sind die Bäume hinter dem Start nicht viel mehr als grosse Büsche, dachte sich Endrio. “Kommst du alleine raus”? Nach einer Pause meldete sich Davide wieder: “Mein Baum ist hoch. Ich habe meinen Helm runtergeworfen, das sind sicher zehn Meter. Ich kann in diesem Nebel nichts ausmachen. Da bewege ich mich nicht, bis du mich nicht runterholst".

Wäre Endrio nicht ein so ruhiger Typ gewesen, wäre jetzt bestimmt der Himmel auf die Erde gefallen. In Diecimo musste er noch zwei andere Piloten aus dem Haus holen, um einen effiziente Rettung zu machen. Davide hatte im Nebel ungewollt eine 180° Wendung gemacht und war hinter der Krete in den höchsten Baum gekracht Es war nicht ganz einfach ihn von seinem Hochsitz runter zu holen, denn der Baum hatte an seinem unteren Ende keine Äste. Das war eine echt lange Nacht- und Nebelaktion. Am folgenden Tag brauchte ich dann nochmals gute zwei Stunden um den Schirm völlig intakt vom Baum zu holen. Davide wollte nur mich rauf lassen, da ich einige Erfahrung hatte, fremde Schirme aus den Bäumen zu holen. Der beissende Spott der Andern war nun Davide sicher, aber er nahm das gelassen hin, denn in jener Nacht hatte er sein Herz einen Moment lang in den Hosen gehabt. Ausserdem geht Gelächter am schnellsten vorüber, wenn man sich nicht rechtfertigen will. Ausserdem war sein Schirm ebenfalls in Ordnung und seine Laune deshalb bestens.