ITALIENISCHE GESCHICHTEN
FRANCONE
An jenem Morgen war der Laden voller Leute. Das Wetter war vielversprechend und die Piloten kamen schon früh angefahren und waren voller Ewartung. Viele wollten noch etwas Kleines kaufen, den kontrollierten Notschirm abholen oder eine Leine reparieren. Jemand war an einem Ocasionschirm interessiert und wollte dessen Luftdurchlässigkeit wissen. Francone stand auch bei dieser Gruppe, schaute ruhig zu und lauschte den Argumenten über Porosität. Er war gross, sehr gross und wenn er etwas sagte, kamen die Worte erst nach langem Überlegen, irgendwo tief aus seinem Inneren raus. Man brauchte Geduld, wenn man mit ihm diskutieren wollte, besonders am Telefon, wo einem das Gefühl überkommen konnte, die Linie sei unterbrochen worden. Aber was er sagte hatte Hände und Füsse. Alle wusten, dass er einen uralten ZX hatte. In vier Jahren hatte er zwischen 500 und 700 Stunden angesammelt. Endrio, der Schulleiter hob plötzlich den Kopf zu Francone und sagte mit einem spitzbübischen Lächeln: “Geh doch mal deinen Schirm holen, jetzt beweise ich dir, dass es langsam Zeit wird dein altes Tuch fortzuwerfen.” Francone stand da, lächelte und sagte nach einer langen Pause: “ Hm..., ja, wollen wir mal schauen”, worauf er verschwand.
Das Resultat war haarsträubend, das Gewicht vom JDC Porosimeter fiel beinah ungebremst durch! In weniger als einer halben Sekunde hatte es die Luft durch das Tuch der Eitrittskante gezogen. Sogar ein Paar Jeans habe eine geringere Luftdurchlässigkeit meiten Endrio lachend. Ob Franco wegen dem Resulatat sprachlos war oder nicht, war nur schwer festzustellen, denn nach einer langen, aber seiner Eigenheit entsprechend beinah normalen Pause meinte er ruhig: “Der Schirm fliegt aber noch gut. Ich habe noch nie Probleme gehabt".
Sein Schirm flog tatsächlich ausgesprochen gut. Ich erinnerte mich an einen Flug, den wir zusammen ein paar Jahre zuvor gemacht hatten, Francone, Endrio, Nigi und ich. Es war an einem Septembermorgen, noch kalt von der Tramontana, dem frischen Nordwind, und deshalb machten wir keine Schulung. Um so besser für uns! Als wir auf Prato Fiorito ankahmen, bildete sich eben die erste Wolke. Unsere Herzen jagten voller Erwartung. Die Vorbereitungen waren schnell abgechlossen und vier Sommervögel hoben sich in die Lüfte. Doch so eifach wie wir es uns vorgestelt hatten war es nicht: beinah eine halbe Stunde rackerten wir uns ab, um genügend Höhe zu machen. Es reichte einfach nicht. Ich habe manchmal etwas Schwierigkeiten mit der Geduld, so auch in jenem Augenblick: ich machte mich auf und davon Richtung Hauptkette des Appennin. Zu meinem Erstaunen klappte es aussergewöhnlich gut! Die Thermik war zuverläsig, Turbulenz frei und trug weit hoch. Meine Kollegen folgten mir augenblicklich, doch jeder auf einer etwas anderen Route. Über dem Rondinaio, dem “Berg der Schwalben”, mit 1960m die höchsten Erhebung der Gegend, machten wir gar 2’800m. Absolut fantastisch für die Toskana! Aber kalt war es. Ich schlotterte wie ein armer Schlosshund und wusste, dass es den Anderen gleich ergehen musste. Wir waren noch im “Sommer” aufgebrochen, mit T-shirts und nur einem leichten Overall zum fliegen. Die Nullgradgrenze war bei ca. 2’200 m, und wen wundert’s dass wir froh waren, ab und zu in tiefere Gefilde zu kommen. Wenn es auch nur für fünf oder zehm Minuten waren, so genügte es doch, etwas weniger zu frieren. Jeder für sich alleine hätte schon lange aufgegeben, doch die Gruppe hielt durch. Wir hatten keine Ahnung, wo der Wind uns hintragen würde, einfach immer geradeaus, dem Hauptkamm nach. Nun, eigentlich führte uns der Wind nicht, denn wir flogen ihm entgegen. Das Vorankommen war mühsahm. Trotzdem, mit über 3’000 m Basishöhe und einen Ausblick vom Meer bis zu den Alpen jauchzte das Herz.
Francone war der Erste, der mich überhohlte. Sogar wenn ich beschleunigte holte er mit seinem ZX auf, einem Schirm, der bekannt dafür war, langsam zu sein. Auch die anderen Beiden machten langsam Terrain gut. Sie kannten die Berge besser als ich und so markierten sie in der Folge die Aufwinde. Manchmal verloren wir uns aus den Augen, doch nach mehr als 30 km und guten drei Stunden Flug fanden wir uns alle am Passo Pradarena wieder. Bis dorthin hatten sich in schöner Regelmässigkeit die Wolken vor uns entwickelt, doch nun war es fertig damit. Für uns war Endstation. Da meldete sich Nigi am Funkgerät und schlug vor, den Rückflug zu versuchen. Das war eigentlich logisch, doch wir waren so vernagelt in unserem “vorwärts, vorwärts”, dass wir diese Lösung nicht von alleine sahen. Nun ging die Post wirklich ab: Die ersten zehn Kilometer unter einer wunderschönen Wolkenstrasse, mit Beschleunigungssystem und kaum nennenswerten Höhenverlusten, immer in der Gruppe. Das war schönes fliegen. Anschliessend wurde es etwas schwieriger, da die Sonne langsam an Stärke verlor. Auf halber Streck wurden die Berge etws niedriger und Wald dominierte die Landschaft. An einer besonders exponierten Stelle fand ich dann als erster doch noch eine besonders gute Thermik, welche mich wie einen Champgnierkorken in den Himmel jagte. Das Segel rührte sich kaum, so ruhig war es, nur das Vario heulte wie ausser Rand und Band. Bei diesem Anblick meldete sich Francon zum ersten Mal seit dem Beginn des Fluges: “Oh..., Ragazzi, guardate Jury. Was zeigt dein Vario an?” “Fünf Meter und ruhig wie in einem Ölbad” antwortete ich. Das war unsere letzte gute Thermik. Für den Rest des Fluges mussten wir jeden noch so kleinen Aufwind nutzen, denn wir waren nicht sicher ob es bis zu unserem Auto zurück reichen würde. In Sichtweite des Landeplatzes lösten sich dann auch die letzten Wolken auf und wir konnten nur noch ein-zwei mal ein paar Meter Höhe gut machen. Völlig durchfrohren, doch überglücklich flogen wir alle zur gleichen Zeit auf der Landewiese ein und fielen uns in die Arme. Wir fanden kaum Worte für unsere Gefühle, aber Worte sind ja nicht das Wichtigste.
Francos Schirm hatte einiges geleistet und erlebt, so war es klar, dass er an dem alten Tuch hing. Dass auch seine Sicherheit daran hing sah er zwar ein, doch meinte er das Segel sei noch stark genug und auch die Leinen seien noch “relativ” neu.Denn diese wechselte er von Zeit zu Zeit aus. Auch letzthin sei er noch in starker Turbulenz mit etlichen Einklappern geflogen. “Der hält schon noch ein Jahr” verkündete er zuversichtlich.
Wir wussten jedoch alle, dass die Zeit reif war. Auch Francone würde bald seinen Schirm wechseln, denn die Mühlen mahlen stetig.
Zwei Wochen später, ich war mit Endrio dabei einen Leinen-check durchzuführen, läutete das Telefon. Ich nahm es ab und , oh weh, es war Pelagatti. Der würde mich für mindestens eine halbe Stund am Drat behalten. Endrio lachte schafenfreudig und gab mir Zeichen, er sei nicht hier. “Jury, weisst du das Neueste”, verkündete mir Pela, “Francone wird endlich seinen Vogel wechseln. Gestern war ich mit ihm fliegen, und beim Landen blieb ein Teil seines Flügels an wilden Rosen hängen. Trotz aller Sorgfalt konnten wir es nicht verhindern, dass es ein paar kleine Löcher gab. Als sie Franco untersuchen wollte ging sein Finger durch, wie wenn nichts vorhanden wäre. Das Tuch zerriss wie altes Pergament”! Ich musste grinsen. “Weisst du was Pela?” antwortete ich, “das musst du Endrio persönlich erzälen, ich reich ihn dir.”