ITALIENISCHE GESCHICHTEN

Die folgenden Geschichten sind bereits ein paar Jahre alt und sind damals im "Swissglider" veröffentlicht worden. Vieles hat sich in der Zwischenzeit geändert, aber es sind alles Geschichten die tatsächlich geschehen sind. Viel Vegnügen bei der Lektüre!

PUPPINO

Im Land der Etrusker und Römer gibt es ein Sprichwort, das heisst “Tut’il mondo è paese”, was soviel heisst wie “Die ganze Welt ist wie ein Dorf.” Damit wollen sie ausdrücken, dass die Menschen auf der ganzen Welt gleich sind.
Wenn ich hier Gegebenheiten aus Italien erzähle, heisst das, dass sich diese Geschichten mit ein paar kleinen Unterschieden, ebenso gut in der Schweiz hätten zutragen können. Mit kleinen Unterschieden, wie die der “Tortellini ai funghi” welche in einer Trattoria eben anders schmecken als bei uns im “Rössli”.
Die Geschichten sind wahr und wer will kann die Personen selber kennen lernen, mit ihnen fliegen und palavern. Eine Hand voll italienischer Wörter genügt schon, denn der Rest wird mit Gestikulieren, Humor und gutem Willen wettgemacht.

Am Anfang war Puppino. Er ist schon beinah ein kleiner Mythos in der Geschichte des Gleitschirmfliegens der Toskana. Mit seinen 155 cm ist er nicht eben gross, aber seine drahtige Stattur, der kurze geschnittene Bart und sein überschäumendes Wesen geben ihm ein ganz eigenes Charisma. Als Besitzer eines Sportgeschäftes und begeisterter Sportkletterer hielt er sich immer auf dem neuesten Stand der Dinge.

Es war an einem windigen und kalten Nachmittag des Jahres 85, draussen konnte man nicht viel tun , und viele Freunde Puppinos schauten bei ihm im Laden vorbei, um ein Bisschen zu schwatzen. Anstatt in die Beiz ging man eben zu Puppino. Miriano hatte an diesem Nachmittag aber mehr vor als nur die Zeit vertreiben: er hatte in einer Zeitschrift ein Foto von einem Fallschirm entdeckt, der von den Bergen fliegt! Auch für Puppino war dies neu, jenes Ding musste her. Zum Glück war auf dem Foto zu erkennen, dass das Produkt von Salewa war. Er bezog bereits Material von dieser Firma, weshalb es ein Leichtes war, in Besitz eines Schirmes zu kommen. Natürich wusste keiner, wie man damit flog, aber das war nebensächlich. Tatsächlich glaubten sie, dass ein Rückenwind den Start erleichtern würde, da er ja in Flugrichtung stiess! Da es allerdings nicht einfach war solche Bedingungen zu finden, gab es trotz mangelhafter Kenntnisse der Materie, wenig Zwischenfälle, und sie lernten schnell. Zu Beginn nannten sie den “Parapendio” (Gleitschirm) scherzhaft auch “Barapendio”. Para heisst im weitesten Sinn "Schirm", pendio ist der Hang, und Bara bedeutet Sarg.

Etwa zwei Jahre lang bestand die Gruppe aus etwa zehn Personen. Auch Luca Pelagatti, "Pela" für seine Freunde, hatte schnell zu ihnen gefunden. Er kam vom Fallschirmspringen, war also schon etwas vorbelastet. In der Luft und beim Landen gab es keine Probleme, doch der Start mit dem Sprungschirm war alles andere als einfach. Hob er nicht rechtzeitig ab, konnte es ohne weiteres geschehen, dass er eine Aussenlandung improvisieren musste, wobei er mit der Zeit zwangsläufig grossses darin Geschick erwarb.

Mit den Jahren wurden alle etwas ruhiger und Gleitzahlen von 4 , ja 4,5 waren normal geworden. An einem heissen Sommernachmittag traf sich die übliche Gruppe in Abetone ein. Der Wind war stark an jenem Tag, und niemand wusst recht was machen. Die Diskussion war lang und schweifte oft von Fliegen ab. Aber was soll's, das Leben besteht noch aus vielen anderen schönen Ding als Fliegen. Schliesslich rangen sie sich durch, mit den Autos hoch zu Fahren um die Lage besser beurteilen zu können. Da der Wind jedoch auch dort eindeutig zu stark war setzten sie sich ins Gras und fuhren fort zu fachsimpeln. Mit Witzen, Fussball und Frauen (in der Schweiz käme das Militär dazu) ging die Zeit schnell vorüber. Der Wind allerdings nahm nicht ab. Ein paar Piloten meinten, wahrscheinlich könnte man schon fliegen, doch keiner wollte der Erste sein. Nach und nach lockerten sich die Reihen auf. Und zuletzt blieb nur noch Puppino und Pela übrig. Am Aben lässt der Wind immer nach, meinten sie voller Überzeugung. Manchmal etwas früher, manchmal etwas später. Heute war es eher etwas später, denn die Sonne neigte sich immer mehr dem Horizont zu, doch Äolus, der Windgott hatte scheinbar kein Erbarmen. Doch dann hatte Pela plötzlich den Eindruck, der Wind sei etwas schwächer geworden. “Oh Puppino, jetzt müssen wir es versuchen, pack mal deinen Schirm aus". - "Wieso ich, geh doch du". - "Nein, der Wind wird immer schwächer, schau doch die Bäume an. Du bist leichter und ich kann dich beim Starten halten”.

Puppino reichte Pelagatti nicht einmal bis an die Schultern, und es war wirklich besser so als umgkehrt! Ausserdem war auch Pela unsicher, weshalb eben Puppino fliegen musste. Während sie sich auf solche Weise Argumente hin und her schoben, legte sich der Wind tatsächlich noch etwas und Pelas Argumente trugen Früchte.

Das Auslegen des Schirmes erwies sich nicht als einfach, denn beide waren nervös und der Wind tat das Seine. Zum Glück hatten die Schirme damals noch nicht so viele Leinen, doch das flatterhafte Tuch musste mit Steinen beschwert werden. Nur kleine Steine, und nur ganz am Rand, denn der Schirm wurde besser behandelt als die eigene Freundin, welche nur allzu oft warten musste.

Puppino zog das Gurtzeug an und setzte den Helm auf. Pelagatti sicherte ihn währenddessen am Brustgurt und gab tausend Ratschläge. Puppino war, anders als sonst, still und liess den Redeschwall an sich vorbei in den Wind rauschen. Hie und da schwächte der Wind ab. Die Spannung stieg in diesen Momenten stark an, denn in solchen Pausen dachte Pela "jetzt oder nie", Puppino dachte “jetzt, ...noch nicht". Die Verhältnisse blieben lange Zeit gleich, das mulmige Gefühl im Magen ebenfalls. “Pronto Puppino?” - “Ein Moment, ... gut”. Mit aller Kraft zerrte Pela am Brustgurt. Er hatte nur auf das Komando von Puppino gewartet und stemmte seine Beine ins Gras. Puppino half nach Kräften, doch er strampelte nur in der Luft ohne geringster Weise helfen zu können. Eine Böe tat das Ihre und brachte auch Pela arg ins Zappeln. Der Wind griff mit Wehemenz ins Tuch und riss es mitsammt Pilot in wenigen Augenblicken ein paar dutzend Meter hoch. Wild pendelnd blieb Puppino dort oben hängen. Er wartete mehr hängend als sitzend in seinem Gurtzeug, bis sich alles beruhigte hatte. Er wagte kaum die Zehen zu bewegen. Wenigstens ging es nicht mehr hoch. Vorsichtig schaute er sich um und bemerkte, dass er an Ort und Stelle verharrte. “Luca, Luca, chè faccio”? Nur der Wind antwortete ihm mit leisem, aber stetigem und ironischem Rauschen. “Luca, was soll ich machen” schrie er diesmal lauter. Immer noch keine Antwort. Inzwischen hatte er sich in seinem Sitzchen etwas bequemer gemacht, wobei er endlich den Mut fand runter zu schauen. “La Madonna! Luca, steh auf , was ist mit dir los”? Pelagatti lag unter ihm in der Wiese auf dem Rücken und regte sich nicht. Nun hatte unser kleiner Held wirklich Schiss: er konnte weder runter noch vorwärts und sein Freund gab, aus weiss Gott welchem Grund, kein Lebenszeichen von sich. Da fühlte er sich einsahm und verlassen.

Nach ein paar Minuten rührte sich Luca und stand etwas benommen auf. ”Cazzo, i miei coglioni. Mi hai colpito pieno nel paese basso”. Du hast mich voll in mein Familienglück getreten! - Wie lang hängst du schon dort oben? Puppino war erleichtert, was allerdings nicht viel an seiner Situation änderte. Während einer guten halben Stunde noch musste ihm Luca moralischen Beistand leisten und versichern, dass der Wind bestimmt nachlassen würde, was bei Sonnenuntergang auch tatsächlich eintrat. Völlig erschöpft landete Puppino in anbrechender Dunkelheit im Tal unten.

Ein paar ihrer Kollegen wartete dort auf sie, denn sie wollten noch zusammen Essen gehen. Bei “Pasta” und Wein gaben sie ihre Geschichte zum Besten, die Angst war vorbei und Grund zum Lachen war jetzt gegeben.

Auch heute noch erzählen sie gerne ihr Abenteuer, wenn auch jeder auf seine Art.